Zum Überwintern zieht es die Menschen in den Süden, wo es warm ist und sie der nassen Kälte Deutschlands entfliehen können. Aber wie wäre es, einmal genau das Gegenteil zu wagen und den Winter im hohen Norden Norwegens zu verbringen?
Text & Fotos Laura Lichter & Henrik Hoffmann
Seit 2017 sind mein Partner Henrik und ich, Laura, mit Online-Business in der Welt unterwegs. Vor der Pandemie fuhren wir per Anhalter von Vietnam nach Indien, kauften uns dort ein Motorrad und reisten damit 35.000 Kilometer nach Deutschland. Wir bauten einen Kastenwagen zu einem autarken Eigenheim um und fuhren im Sommer nach Norwegen. Ein Freund erzählte uns davon, im Winter als Hundeschlittenführer zu arbeiten. Henrik war Feuer und Flamme für die Idee: Ein Kulturschock der anderen Art als jener, den wir im indischen Varanasi oder im pakistanischen Peshawar erlebt hatten, reizte ihn unendlich. Ich sah uns jedoch an den warmen Stränden Portugals und nicht im hohen Schnee Norwegens —mit Wollsocken in Winterstiefeln, die drei Nummern zu groß sind! Nach dem obligatorischen Besuch am Nordkap war unser letzter Stopp vor der Weiterreise in den Süden bei einem australisch-norwegischen Paar in der Nähe von Kirkenes. Dort erfreuten wir uns nicht nur an den vielen Elchen, die auf dem Grundstück unserer Couchsurfing-Gastgeber nach Futter suchten, sondern auch an der liebevollen Gastfreundschaft unserer neuen Freunde. Diese schafften, was Henrik in langen Diskussionen, die oft mit Tränen geendet hatten, nicht gelungen war: Sie überzeugten mich davon, meine Ängste zu überwinden und dem Winter in Norwegen eine Chance zu geben.


Am Ende Europas
Wir mieteten eine Wohnung im Pasvik-Tal. Im Westen begrenzt von Finnland und im Osten von Russland, erstreckt es sich ca. 100 Kilometer von der Barentssee im Norden bis zum Dreiländereck im Süden, wo Norwegen, Finnland und Russland zusammentreffen. Dieses kann man im Sommer zu Fuß und im Winter mit Ski erreichen. Die Gegend liegt 400 Kilometer nördlich des Polarkreises und ist der Beginn der sibirischen Taiga, dem größten Waldgebiet der Erde. Von November bis Januar geht hier die Sonne nicht mehr auf und die Temperaturen sinken an manchen Tagen auf unter —30 °C. Als Entschädigung leuchten die Nordlichter kräftiger und bei Vollmond reflektiert der Schnee das Licht des Mondes. Nordlichttouren bieten die Möglichkeit, mit Hundeschlitten, Schneemobil oder Bus dieses Naturspektakel zu bestaunen. Die dunklen Nächte haben ihren eigenen Charme und ließen uns die Rückkehr der Sonne umso mehr wertschätzen.



Unvergessliche Aktivitäten
Durch glückliche Zufälle erhielten wir eine Anstellung als „On-Call“-Hundeschlittenführer im Snowhotel Kirkenes, das Besucher mit einem Hotel aus Eis 365 Tage im Jahr begeistert. Neben 140 alaskischen Huskys runden Rentiere das einmalige Wintererlebnis ab. Mit Touristen aus aller Welt glitten wir mit Hundeschlitten durch die Eislandschaft und entdeckten die umliegenden Wälder. Wir lernten stetig dazu und waren schließlich auch als Schneeschuh-, Königskrabben- und Schneemobilführer tätig. Mit Gästen fuhren wir mit Schneemobilen in vier Stunden an die russische Grenze oder auf den zugefrorenen Fjord, wo wir die berühmten Königskrabben aus dem Eis zogen. Die Königskrabbe ist die größte essbare Krabbe der Welt und die kulinarische Delikatesse der Region.



Dank unseres wachsenden Netzwerks lernten wir einen Dänen kennen, der mit seiner Firma Arctic Outlaws Ski-Expeditionen im Pasvik-Tal anbietet. Er zeigte uns, wie wir uns mit Ski und Pulka — einem Schlitten, den man in einem Geschirr hinter sich herzieht — im Schnee fortbewegen und uns richtig für körperliche Aktivitäten kleiden. Wir lernten mit anderen Anfängern, wie wir ein Zelt aufbauen und mit Schnee in diesem eine Mahlzeit zubereiten. Die Touren finden von Januar bis April statt und eignen sich für Anfänger und Fortgeschrittene. Mit unseren neu erworbenen Fähigkeiten machten wir uns bald selbst auf Tour. Ob mit Zelt unter den Nordlichtern oder in den unzähligen offenen Hütten, die der Pasvik National Park zu bieten hat — das Abenteuer blieb nie aus. Über Fefo.no mieteten wir auch Hütten vom norwegischen Staat, die mit Saunas, Generatoren und Gas ausgestattet sind und dank der gemütlichen Inneneinrichtung zum Verweilen einladen. Wir fischten auf zugefrorenen Seen, lernten die „runde Hitze“ der norwegischen Sauna lieben und durften die einzigen Ureinwohner Europas, die Samen, beim Rentiertreiben unterstützen.



Die europäische Arktis — ein besonderes Reiseziel
Bestärkt durch die Erfahrungen des ersten Winters beschlossen wir, im folgenden Jahr zurückzukehren, um unsere Kenntnisse zu vertiefen. Der Winter hatte mir gezeigt, dass es sich immer lohnt, sich auf etwas Neues einzulassen und die eigenen Ängste zu bezwingen. Den norwegischen Winter erlebt man am besten zwischen Februar und März, wenn die Tage wieder länger und wärmer werden und Nordlichter noch die Nächte erhellen. Kirkenes ist in zwei Stunden von Oslo mit dem Flugzeug erreichbar. Wer es gerne langsamer angeht, kann mit den Hurtigruten, den traditionellen Postschiffen, in sechs Tagen von Bergen bis zum Wendepunkt an der russischen Grenze fahren.
Diesen Sommer brachen wir unsere Zelte in Norwegen vorläufig ab. Henrik fuhr per Anhalter durch Russland zurück und besuchte die Gegend, auf die wir zuvor tagtäglich geblickt hatten. Ende dieses Jahres streben wir ein neues Abenteuer an: Mit dem Segelboot von Europa in die Karibik. Doch es ist nur ein Abschied auf Zeit, denn Norwegen ist unsere neue Heimat geworden.
