Insel der Götter

Die bekannteste Insel Indonesiens, nur etwa doppelt so groß wie Luxemburg, lockt alljährlich mehr als vier Millionen ausländische Besucher an. Besonders die Strände und Ferienorte im Süden des Eilands befinden sich fest in der Hand der Sonnenanbeter, Surfer und Partygänger, die Balis Image in den vergangenen Jahren geprägt haben. Eine kurze Autofahrt Richtung Norden reicht hingegen schon, um authentische balinesische Kultur und einzigartiges hinduistisches Kulturerbe zu entdecken.

Luh ist die Aufregung anzusehen. Endlich ist der große Tag, für den sie wochenlang geprobt hat, gekommen. Es ist Galungan, einer der wichtigsten balinesischen Feiertage, und schon am frühen Morgen hat das ganze Dorf sich innerhalb der moosbewachsenen Mauern des altehrwürdigen Tempels eingefunden, um den Sieg des Guten über das Böse, den Triumph der Tugend über das Übel zu feiern. Es ist der Auftakt einer elftägigen Festzeit, während derer, so glauben es die Insulaner, die Geister der Vorfahren sowie die Götter die Erde besuchen.

Um die besonderen Gäste aus dem Jenseits zu begrüßen und zu unterhalten, wird Luh zusammen mit zwei anderen Kindern den berühmten Legong-Tanz aufführen. Ihr Vater legt noch letzte Hand an, um das goldfarben leuchtende, mit bunten Glassteinen verzierte Kostüm zurechtzurücken, dann setzt der hinduistische Priester den drei Mädchen feierlich die mit Blumen geschmückte, kronenartige Kopfbedeckung auf. Zu den Klängen der Gongs, Trommeln und Xylophone des traditionellen Gamelan-Orchesters und unter den achtsamen Blicken der Erwachsenen beginnen sie mit anmutigen, aufeinander abgestimmten Handbewegungen die komplexe Darbietung, die durch ihre Reinheit den Göttern Freude bereiten soll.

Traditionsreiche Symbolik

An Galungan ist ganz Bali auf den Beinen. In den Tempeln wird gebetet, Räucherstäbchen werden angezündet und Opfergaben dargebracht. Traditionelle Tänze werden aufgeführt. Hinduistische Priester versprühen heiliges Wasser und segnen die Gläubigen. Die Männer sind von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet, den traditionellen Udeng ums Haupt gewickelt. Die Frauen tragen Kebayas aus feiner Spitze und farbige Sarongs, auch die Kinder wurden adrett herausgeputzt.

Doch nicht nur die Menschen präsentieren sich von ihrer besten Seite. Für das Fest hat jede Familie die Straße vor ihrem Haus mit bis zu zehn Meter hohen, mit Blumen, Kokosnussblättern und Früchten dekorierten Bambusstangen geschmückt. Diese sogenannten Penjors sind ein Symbol für Wohlstand und die Inselbewohner überbieten sich gegenseitig mit spektakulären Kreationen. Die Bogenform der Penjors steht für den heiligen Berg Agung, die Heimat der Götter, doch die Krümmung der Bambusstangen erinnert ebenfalls an den mythischen Barong, dessen Schwanz eine ähnliche Biegung aufweist.

König der Geister

Das löwenähnliche Fabelwesen ist eine zentrale Figur der balinesischen Mythologie. Der Barong ist der König der Geister, der Anführer der Kräfte des Guten. Er wird in zahlreichen Tempeln der Insel verehrt, obwohl sein Ursprung tausende Jahre, in eine Zeit lange vor der Verbreitung des Hinduismus auf der indonesischen Insel, zurückreicht. Zusammen mit der Hexe Rangda, seiner finsteren Gegenspielerin, steht er als Metapher für das Gleichgewicht von Gut und Böse und symbolisiert, dass das Gute nicht ohne das Böse existieren kann, dieses zwar zeitweise zurückdrängen, nie aber ganz besiegen kann.

Kein Wunder also, dass der Barong an Galungan eine wichtige Rolle spielt. In den Dörfern ziehen die Kinder und Jugendlichen mit einem Barongkostüm von Haus zu Haus und führen, in Erwartung einer kleinen Spende, einen Tanz auf, der den Bewohnern Glück bringen soll. Ein ausgelassenes Spektakel! Bei diesem unterhaltsamen Brauch kommt allerdings nicht der „richtige“, der mit magischen Kräften ausgestattete Beschützer der Gemeinschaft und im Tempel angebetete Barong zum Einsatz. Dieser darf nur von wenigen Auserwählten in sakralen Zeremonien bewegt werden.

Als der prachtvolle, heilige Tempelbarong am späten Nachmittag, von hunderten Menschen begleitet, in einer feierlichen Prozession durch das Dorf Penglipuran zieht, ist die Stimmung denn auch ganz anders als bei der heiteren Darbietung der Kinder: Die Gläubigen sitzen ehrfurchtsvoll vor ihren Häusern, falten andächtig die Hände zum Gebet und schließen sich, bunte, geflochtene Körbe mit Opfergaben in den Händen, dem langen Korso an. Der Barong besucht elf Tage lang verschiedene Tempel, um am letzten Tag der Festzeit, am Tag von Kuningan, wieder an seinen angestammten Platz zurückzukehren.

Feierlicher Abschluss

Tatsächlich, so will es die Legende, kehren an Kuningan auch die Geister und Götter wieder zurück in ihr himmlisches Zuhause. Im Dorf Tista im Osten der Insel führen die jungfräulichen Frauen zu diesem Anlass den einzigartigen Rejang-Tanz auf, bei dem sie sich selbst den Göttern anbieten. Vom späten Vormittag bis nach Sonnenuntergang, nur von kurzen Pausen unterbrochen, drehen die prachtvoll gekleideten Tänzerinnen zu den Klängen des Gamelan-Orchesters im Hof des Tempels unermüdlich Runde um Runde und wiederholen unzählige Male, wie in Trance, die immer gleichen Bewegungen.

Weitaus turbulenter geht es dagegen außerhalb des Tempels beim Makepung zu. In bunt bemalten, detailreich geschnitzten Karren, die an altrömische Streitwagen erinnern, treten dutzende Teams in spannenden Rennen gegeneinander an. Im Gegensatz zu den Römern spannen die Balinesen allerdings keine Pferde, sondern eigens dafür gezüchtete Wasserbüffel vor die Rennwagen. Lässig eine Zigarette rauchende Jockeys treiben die Tiere zu Höchstgeschwindigkeiten an; die Gespanne geben alles für Ruhm und Ehre.

Bali, oft als Ausgeburt des Massentourismus verschrien, hält tatsächlich einige Überraschungen parat. Abseits der von jährlich vier Millionen ausländischen Besuchern ausgetretenen Pfaden lässt sich, insbesondere im Nordosten und im Westen der Insel, eine quicklebendige Kultur entdecken. Besonders lohnenswert sind natürlich die Festtage. Galungan wird alle 210 Tage gefeiert: die nächsten Gelegenheiten ergeben sich am 28. Februar und am 25. September 2024.

Text & foto: Laurent Nilles

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