Auf La Réunion geht Nathalie Leichnig zur Ernte der Vanilleschoten in den wilden Tropenwald. Nach alter Familientradition baut sie Bourbonvanille an. Die Schoten gehören zu den begehrtesten Produkten weltweit. Spitzenköche sind Stammkunden an ihrem Marktstand und fachsimpeln mit ihr über die Geheimnisse der einzigen Orchidee, die man essen kann.
Birgit Weidt
Es ist Markttag in Saint-Pierre und Nathalie breitet hunderte Vanillestangen auf ihrem bunten Tisch aus. Sanft massiert die kreolische Bäuerin die schokoladenbraunen Schoten, um das Aroma zu verstärken. Der Duft ist blumig und betörend, ein leichter Wind weht vom Meer herüber und verteilt die süße Duftwolke über den Platz. An den Nachbarständen, die mit Papayakonfitüren und afrikanischen Trommeln bestückt sind, lächeln die anderen Händler: „Ah, Nathalie lé la!“ Die 45-Jährige verkauft Bourbonvanille, eine begehrte Kostbarkeit, die unter Kennern teuer gehandelt wird. Ihr Stand ist früh am Morgen von einer Menschentraube umringt: Touristen suchen Mitbringsel, Einheimische kaufen für die Sonntagsküche ein und Restaurantköche prüfen jede Stange. Der Geruch muss harmonisch sein, eine ausgewogene Sinfonie der Aromastoffe. Nathalie gibt Tipps für Rezepte und erklärt, dass Vanille nicht nur für Süßspeisen, sondern auch für herzhafte Gerichte verwendet wird.

Nathalie wohnt mit ihrem Mann Harry und ihren vier Kindern im Süden der Insel, eine Autostunde vom Markt entfernt. Ihre Plantage liegt im dichten Regenwald, wo die Vanillelianen an Palmen und Zimtbäumen emporwachsen. Harry klettert geschickt die Stämme hinauf, um die Lianen auf Mannshöhe zu binden. Die exotische Orchidee fand im 19. Jahrhundert auf La Réunion eine zweite Heimat, als erste Setzlinge in die fruchtbare Vulkanerde gepflanzt wurden. Doch die Pflanzen blühten nicht, da es an Bestäubern fehlte. Ein Sklave, Edmond Albius, entdeckte vor über 200 Jahren, dass er die Blüten mit den Fingern bestäuben konnte, was die Vanilleproduktion revolutionierte.

Die Brüder Louis und Harry Leichnig prüfen die Ernte.

Die Orchidee, bevor sie zur echten
Bourbonvanille heranwächst.

Die anspruchsvolle Pflanze blüht nur einmal im Jahr. Nathalie fährt jeden Morgen zur Plantage, um die Dolden mit einem Kaktusstachel zu bestäuben. Diese mühsame Arbeit erfordert viel Fingerspitzengefühl und wird traditionell von Frauen ausgeführt. Neun Monate braucht die Schote, um zu reifen. Die Erntezeit liegt zwischen Juli und September, wenn das Wetter angenehm kühl ist. Nathalie schüttet die frischen Schoten hinter ihrem Haus auf eine Matte. Der Veredlungsprozess dauert sechs bis neun Monate, in denen sich das Aroma entfaltet. Die Schoten werden in ein heißes Wasserbad getaucht, in Wolldecken gewickelt und zum Schwitzen in eine Holzkiste gepackt. Danach kommen sie in die Sonne und später ins heiße Dachgeschoss.

Fünf Kilogramm grüner Schoten ergeben ein Kilogramm schwarze Vanille. Eine Bourbonschote kostet zwischen zwei und fünf Euro. Nathalie erklärt, dass ihre Früchte einen Anteil von drei Prozent Vanillin haben, was sie besonders aromatisch macht. Die Leichnigs bauen biologisch an und verzichten auf chemische Dünger.
Am Nachmittag packt Nathalie ihre restliche Vanille in Holzkisten und kehrt nach Hause zurück. Dort zündet sie das Holzfeuer im Hof an und kocht traditionell über der offenen Flamme. Während sie mit ihrer Familie ein Vanillegericht kocht, bereitet sie auch einen Kuchenteig für das Familienpicknick am Sonntag vor. An diesem Tag versammelt sich die ganze Verwandtschaft zum Essen im Freien.

Am nächsten Tag ist Nathalie heiter und beschwingt. Sie genießt das Picknick, singt und tanzt um den Holztisch. Der süße Duft der Vanille umgibt sie, während sie mit Harry und den Kindern feiert. Nach dem Essen ist Siesta angesagt und jeder sucht sich ein Plätzchen zum Ausruhen. Nathalie schmunzelt und denkt daran, dass Vanille als Aphrodisiakum gilt. Sie zieht eine saftige Schote aus ihrem Korb, steckt sie in ihr Dekolleté und nimmt Harry bei der Hand …